Was ist der große Indigo?


"Obwohl die Dinge, über die zu berichten lohnte, immer weniger werden, nimmt die Anzahl der Berichte und Berichterstatter zu."
 
 Das eigene Zitat ist richtig und falsch.

Meine erste Begegnung mit Kurt W. Streubel fiel auf das Jahr 1979. Er wurde wie ich in einem der gemütlichen Weimarer Ateliers, versehen mit allerlei Bildern, auf denen sehr dicke Menschen mit sehr dicken Händen Gemüse, vielleicht auch Äpfel hin und her schoben, in den Verband Bildener Künstler, Sektion Maler und Graphiker, aufgenommen. Das war ungewöhnlich, zumal für mich, denn der schon ergraute Herr war gewiss kein Absolvent der bekannten Kunsthochschulen. Ein Laie, griesgrämig und unsicher, beflissen – nein. Bedeutende Künstler haben spät begonnen, das wusste ich. Warum hatte er so lange gebraucht? 

Meine Verwirrung und gleichzeitige Verunsicherung nahm mit dem sehr ungewöhnlichen Auftritt dieses Mannes nicht ab. Wer hatte ihm das Unglück der langen Wartezeit zugefügt, oder war es ein Glück? Einige Jahre später in seinem Atelier wurde es mir schlagartig klar.

Am Tag der Aufnahme war er gut drauf. Ich galt damals nicht nur als laut und renitent, sondern auch als Talent. Was aber war dann dieser Mann, der unentwegt gestikulierend Texte aus sich heraus schoss, dazwischen lachte und im gleichen Augenblick warnend  zu den Anwesenden in der Form eines Schreies verkündete, dass ihre Zeit noch nicht gekommen sei, weil es sie gar nicht gibt. Ein bitterer Satz, der bald Wahrheit werden sollte. Die Kunst kennt keinen Respekt vor Grenzen. Der Schutzwall war im Blickwinkel ästhetischer Positionen längst gefallen, Die Auswirkungen hielten sich noch in Grenzen.

Ich erkannte sofort den Künstler, der anders war. Er war ein Übriggebliebener, er galt als überwunden, war kaltgestellt, geschmäht als ungenießbar, und man warnte vor ihm. Mir erschien er gerade deswegen als warmgestellt.

Worüber schreiben Künstler, wenn nicht über sich selbst?  
Sie schreiben über den Punkt.

Viele suchen so etwas. Mancher findet so etwas. Andere heben es so auf, und die nächsten werfen es so weg. So oder so ähnlich verläuft die Begegnung zwischen Künstlern und ihrer Ästhetik, ihrem Material, das immer dann leitfähig ist, wenn es ein anderer in sich aufnimmt. Der Künstler kennt im eigentlichen Sinn keine soziale oder gesellschaftliche Verantwortung. Er wird sein Werk, weil er es ißt. Genau diesem Eindruck, für mich der prägnanteste bis zum heutigen Zeitpunkt, bekam ich beim Eintritt in Kurt W. Streubels Wohnung, die keine war, denn jeder Punkt in dieser war von ihm durchdrängt, optisch wie akustisch. Er sprach mit allen und jedem über die Kunst und das Leben, doch man war nur ein Reflektionskörper. – Er sprach durch andere hindurch mit seinem Werk.

Warum nur sind Künstler nicht in der Lage, die Dinge so zu sehen, wie sie sind?

So ungewöhnlich und unwiederholbar wie ich ihm, dem Großen Indigo, begegnet war, ist mein Beziehungsfeld zu ihm geblieben. Ich sah seine Arbeiten 1983 zum ersten Mal. Sie waren klein im Format und nur wenige. Alle haben mich tief beeindruckt. Er sprach unbeirrt vom Stand seiner Ästhetik, über Zeit und Raum, den Papst, über Rhythmus, Maß, Zahl und schimpfte nicht ein einziges Mal über den Sozialismus. War wohl an ihm vorbeigegangen oder prallte an ihm ab. Er, ein Verwirrspiel der Sinne, nicht melancholisch, nicht traurig, immer auf dem Sprung, sein Werk zu verteidigen und zu beschützen, denn es war noch nicht bestätigt, schloss es ein, um es bei Gelegenheit einem winzigen Spalt zu öffnen.

Der Werkschlitz interessierte mich als Rätsel.

Jeder konnte Freund und Feind in einer Person sein. Ästhetik war allumfassend. Die „Kosmische“ hing eingeengt neben einem Schrank und einer verschlossenen Tür und war doch unübersehbar.

Wie er redet, so malt er, so ist er, oder ißt er ganz anders?

Seine einzige Frage an mich: Hast du alles eben Gesagte aufgeschrieben? Sonst ist es verloren.                                                                                                                                                                                   
Inspiration ist etwas Vergängliches.                                                                                                                                    In seinen Werken, auch in der sporadisch vorgetragenen und am heftigsten verteidigten Dichtung, fand ich jedes Wort seiner Moment vorgetragenen freien Rede, seiner Gesten, seiner Blitze wieder. Dichtung, Malerei und er selbst sind identisch.

Kann Ästhetik sich selbst erkennen?

Sein Credo: Poetik, Optik, Akustik, Konkret, Identität. Kurt W. Streubels Werk ist abgeschlossen und dessen Anerkennung hat er auch vorausgesagt.

B.W. Dürerbett-Schlothauer