Kurt W. Streubel - ein deutscher und

europäischer Künstler der Moderne


Die DDR war für Künstler in der Art Kurt W. Streubels ein außerordentlich schwieriger

Ort. Wer die Frage nach dem Warum einigermaßen gründlich beantworten wollte, 
müsste sich sehr weit auf das Gelände historischer, soziologischer und zeitgeschichtlicher Untersuchungen wagen, und es bliebe ihm dabei das Risiko, nicht verstanden zu werden. Denn die deutschen Verhältnisse beschreiben sich, wie wir wissen, schon seit eh und je in besonderem Maße aus dem Zusammentreffen sich kreuzender Besonderheiten, 
Gegensätze und Ungleichzeitigkeiten.

Die deutsche Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg schuf einen weiteren Gegensatz - durchaus lebensbedrohlich für Deutschland und Europa. Wieder einmal gingen für Jahrzehnte die Uhren anders im Land, Ost und West standen mit dem Rücken zueinander 
und wurden von verschiedenen politischen Systemen bestimmt. 

Wer Kurt Streubels Situation und Schaffen beobachtete, musste sich fragen, ob der 
deutsche Westen für diese Kunst nicht eindeutig die besseren Rahmenbedingungen 
geboten hätte. Diffamierungen und existentielle Nachteile in der DDR waren allzu offensichtlich und eine grundsätzliche Änderungder politischen Verhältnisse eher unwahrscheinlich. Kurt Streubel selbst hat Fragen zu diesem Problem vor allem mit biographischen Details beantwortet, es scheint aber, daß die DDR von ihm trotz allem 
und zumindest grundsätzlich und für eine gute Zeit als identitätsstiftender Lebensraum empfunden wurde. Denn obwohl Kurt Streubel sich zum politischen Alltag in der DDR weniger direkt als in surrealer Sprach- und Gedichtform äußerte, zeigen spätere Affekte 
vor allem zum Zeitpunkt der deutschen Wiedervereinigung, daß ihm ein menschenfreund-

licher Sozialismus lieber gewesen wäre, als das, was folgte.

 Eine andere Frage ist die, warum der real existierende Sozialismus das einzigartige Kraftpotential und den Optimismus der ästhetischen Moderne nicht zu nutzen wusste. 
Der autobiographische Roman "Durch die Erde ein Riss" des Schriftstellers Erich Loest 
gibt Antworten vor allem auch auf diese Frage. Das Buch ist zu lesen als ein Dokument 
von Borniertheit und Inkompetenz, und der Philosoph Ernst Bloch hatte wohl eher noch vornehm untertrieben, als er in den fünfziger Jahren konstatierte, daß die gegenwärtige kulturelle Situation in der DDR die Diktatur des kleinbürgerlichen Geschmacks im Namen 
des Proletariats sei.  An dieser Stelle wäre wieder an Kurt Streubel zu erinnern, dessen abstrakter, expressiver und konstruktivistischer Ausdrucksgestus von einem 
kleinbürgerlich rationalistischen Kunstverständnis nicht begriffen werden konnte.

 Die Moderne hatte in den sozialistischen Ländern darunter zu leiden, daß die beiden totalitären Systeme ihre Spuren nahezu vollständig getilgt hatten.

Begriffe wie "entartet" und "bürgerlich-dekadent" bezüglich moderner Ästhetik waren synonym und von gleichem Habitus. Was wusste man noch in der DDR von dem einst weltbekannten Bauhaus?  Was wollte dieses Projekt zur Gestaltung einer modernen Gesellschaft leisten? Daß Künstler wie Klee, Feininger, Kandinsky und Gropius in Weimar gearbeitet hatten, war den Nachgeborenen nur schwer vorstellbar. Ebenso unvorstellbar 
in jenen Jahren war die unleugbare Tatsache, daß einer der Hauptschauplätze der klassischen Moderne das revolutionäre Russland war. Dem Stalinismus war es gelungen, Mythos und Idee der russischen Avantgarde weitestgehend zu vernichten oder zu missbrauchen.

 Zur Frage nach den Zielen und Aufgaben der ästhetischen Moderne und

warum dieser Epoche schon von den Anfängen ein allgemeines Verständnis verweigert wurde, gibt es viele Antworten. Sie alle zu berücksichtigen, würde den Rahmen einer solchen Huldigung an einen Künstler sprengen, weshalb nur das Wesentlichste gesagt sei: Aus heutigem Rückblick auf die sich schärfer abzeichnenden Konturen des vergangenen Jahrhunderts scheint es richtig, die ästhetische Moderne als ein Scharnier zwischen gestern und morgen, Herkunft und Zukunft des Menschen zu beschreiben. Die Wurzeln dieser spezifischen Ausdruckskultur reichen sehr weit in die Geschichte und Vorgeschichte des Menschen zurück; archaisch-schamanische, esoterische und gnostische Zeichenset-

zungen sind auffällig, aber auch das infantile, der Traum und das Subjektive als gestaltende Kräfte sind unübersehbar. Und schließlich, gewissermaßen im Gegensatz dazu, eignet der ästhetischen Moderne ein ausgeprägter Wille zu Neuordnung, Planung, Vereinheitlichung und Versachlichung der Welt und der Dinge, worauf der spanische Philosoph Ortega y Gasset in seinen Beobachtungen zur modernen Kunst mehrfach hinweist. Die Frage also, warum die ästhetische Moderne zu ihre Zeit nicht populär werden konnte, lässt sich damit beantworten, daß dieser Stil, archaisch und visionär zugleich auf den zeitlichen Menschen wenig Rücksicht nahm und somit Sache kleiner, elitärer Kreise blieb.

Daß wir uns heute trotz allem in einer Welt bewegen, die bis ins Kleinste und manchmal bis zum Überdruss den Stil der Moderne repräsentiert, beweist die Vitalität dieses Projektes. 
Das Gesamtwerk Kurt Streubels zeigt ein seiner Spannbreite alle Vorkommnisse der ästhetischen Moderne - mit großen Überraschungen und sehr eigenem Stil. Biographie (Böhmen, Krieg und Nachkriegszeiten), Alltag in Thüringen, Politik, Dekoration, Mystik 
(Der Prophet) und Transzendenz (Kosmische Komposition) sind die Begriffe, womit sich
der Rahmen einigermaßen bestimmen lässt. 
Wenn man will, lässt sich in der Ästhetik Kurt Streubels eine Besonderheit ausmachen, 
die seine subtile Farbigkeit, Innerlichkeit und Expressivität erklären könnte: ein 
katholisch-barockes Element. Wer die farbenfrohen Städte Böhmens kennt und dazu 
das barocke Kloster der böhmischen Stadt Braunau - tschechisch Broumow (ein Werk der Brüder Dientzenhofer), derweiß, was hier gemeint sein könnte. Kurt Streubel hat Kindheit und Jugend wesentlich in Braunau verbracht, er war Schüler am Braunauer Stift, Prägungen 

sind denkbar. Der österreichische Historiker und Theologe Friedrich Heer spricht in diesem Zusammenhang von Geist, Vitalität und Formkraft des habsburgischen Barock aus klassischem mediterranem Erbe, von der Freude am Leben, der schönen Form, der echten Volkskultur und katholischen Humanität, die diesen westöstlichen, slavisch-romanisch-germanischen Kulturraum ausmacht.

 In der Tat sind der ästhetischen Moderne die besten Kräfte aus den traditionssicheren Randzonen Europas zugeflossen: Russland; Österreich; Italien und Spanien spielten hierbei eine besondere Rolle. Es ging dabei anscheinend um die Ästhetisierung einer Kosten-Nutzen-Rechnung von Aufklärung und technisch-industrieller Revolution seit spätestens der Mitte des 18. Jahrhunderts. 
Bedenkt man, daß nahezu alle Topoi der Moderne im Zeitalter der Romantik schon vorhanden waren (Novalis, Schopenhauer, Nietzsche), müsste über eine Neubewertung der Moderne nachgedacht werden.

Aus heutiger Sicht, mitten im Prozess der Wiedervereinigung und Regene-

ration Europas ist es Kurt Streubel zu danken, daß er in schwieriger Zeit an

schwierigem Ort die Stellung hielt. Sein Werk wird zu dem Wenigen gehören,

was das Zeitalter der Diktaturen überdauert.

 

 

Bernd Herold