LICHTENDE BEWEGUNG (1990)


Johannes Wallmann 'veröffentlicht im Katalolg zur Einzelausstellung von K.W.Streubel, | Herausgeber: Lindenau-Museum Altenburg und Comptoir-Kunstmagazin 2002 

Als ich im Frühjahr 1974 zu einem Gespräch mit dem Suhler Generalmusikdirektor Siegfried Geissler zusammentraf, da sah ich in dessen Dienstzimmer erstmals eine Reihe von Streubels Arbeiten. Ich war fasziniert von der sensiblen und intelligiblen Klarheit und Kraft, von der ideologiefreien Wahrheit und Schönheit, die von diesen Bildungen  ausgingen, und die ich so noch nicht gesehen hatte. Kaum wollte ich es glauben, dass deren Schöpfer weitgehend unbe- und unerkannt im nahegelegenen Gotha leben sollte, existierend vom Einkommen seiner als Orchestermusikerin tätigen Frau. Das, was ich da vor mir sah, schien mir dem Besten und Höchsten der Bildenden Kunst unserer Gegenwart zuzugehören. Etwa anderthalb Jahre später lernte ich meine Frau kennen, und als ich das erste Mal in das Wohnzimmer ihrer in Gotha lebenden Familie  rat, begegnete ich wiederum einer Arbeit von Streubel, durch die mein erster Eindruck sich weiter verstärkte: 'Stangent', aus Öl, Kreide Farbe. Eine seltsame Scheu in mir hielt mich an, schnellen und zufälligen Begegnungen mit Streubel auszuweichen. Und ich glaube, dieser Scheu lag die Ahnung  zu Grunde, dass die Begegnung mit ihm mein Leben sehr stark beeinflussen würde. Diese Ahnung erwies sich bald als zutreffend. Mit loderndem Geist (der sich manchmal auch an sich selbst verbrannte), mit einem hochsensiblen Auffassungsvermögen, mit einer ungewöhnlichen Kraft gedanklichen Durchdringens - die zu tieflotenden philosophischen Verallgemeinerungen in der Lage ist - und mit einem vergnüglich-scharfsinnigen Witz und Schalck forderte er mich auf allen Ebenen meiner Persönlichkeit. Durch ihn, der seine eigene Arbeit als abstrakt-konstruktiv-konkret umriss, begriff ich erstmals etwas von der Tragweite jener Denkansätze, die bei Kandinsky und Klee in unserem Jahrhundert zu erster Blüte gelangt waren. Durch ihn lernte ich sorgsamst zu unterscheiden, durch ihn erhielt ich Bestätigung, wie notwendig das Künstlerische mit dem Philosophischen verknüpft sein muss. Durch ihn, der sich und sein Werk keinen politischen, ideologischen oder kommerziellen Vereinnahmungen preisgab, bekam ich einen Begriff davon, dass das Künstlerische einer jeweiligen Epoche seine Integrationskraft am besten dann entfalten kann, wenn es so weit als möglich ideologiefrei orientiert (ist). Sogleich erhielt ich durch ihn differenziertere Einblicke in Hintergründe kulturpolitischer Zusammenhänge innerhalb der DDR. Und das waren Einblicke, die nichts mit denen durch die Streitbrillen von Ideologen gemein hatten, sondern sachlich und ideologiefrei wahrzunehmen, abzuwägen und zu orientieren suchten, anknüpfend an den frühesten Punkten der Kulturentwicklung der DDR, authentisch durch sein eigenes Erleben in Tun und Erleiden.

Vielerlei Umstände hatten Streubel nach den Wirren des Kriegsendes (nach eigenen Aussagen hatte er mit der Resistance zusammengearbeitet, war letzter Kurier für die Widerstandsgruppe "Rote Kapelle") nach Gotha verschlagen. Von Thüringen aus versuchte er auf eine künstlerisch- progressive Entwicklung der DDR-Kultur Einfluss zu nehmen. Streubel wurde 1946 in Gotha wohl einer der ersten Genossen der SED (aus der er aber bald wieder ausschied) und war an der Gründung des Kulturbundes ebenso beteiligt, wie an der 1. Parteikulturkonferenz. Die 1. Juryfreie Ausstellung - 1950 von ihm initiiert - wurde schon nach drei Wochen wieder geschlossen. Im Rahmen der Formalismusdiskussion und der Abwendung der offiziellen Kulturpolitik von den Denkansätzen der Bauhauskünstler (die im nahegelegenen Weimar - wo er 1946/47 seine Studien bei Hoffmann-Lederer und Schäfer-Ast führte - das erste Bauhaus gegründet hatten) wurde er 1952 nicht Mitglied des - sich auch gegenüber dem Kulturbund verselbstständigenden – Verbandes Bildender Künstler der DDR und erhielt stattdessen die so genannte Formalistenrente. Nach Arbeits- und Studienaufenthalten in Krefeld und Düsseldorf 1953/54, nach der schweren Erkrankung und dem Tod seiner ersten Frau, prägte er in der Gothaer Zurückgezogenheit mehr und mehr seine Alternative zu dem ideologistichen Rummel der DDR-Funktionärs- und Verbandskunst aus, und das radikal. Gebunden an seine 'Kosmische Komposition', die er 1949 in frühmorgendlich-unschuldigem Erwachen vor einer Gartenlaube am Gothaer Boxberg angeichts eines weiten Firmaments spontan aus sich herausmalt, gelingen ihm zunehmend sehr wesentliche Klärungen zu Form und Funktion, zu Funktion und Farbe, zu Farbe und Klang. Im Wechselspiel von schöpferischer Spontanität und reflektierendem gedanklichen Durchdringen, kommt er zur Integration von Geistigem und Materialem, von Wahrheit und Schönheit und läßt diese zur befreienden sinnlichen Wahrnehmung werden. Darin liegt der umfassende Gegenstand seiner künstlerischen Arbeit und ihrer meist ungegenständlichen Vergegenständlichungen. Die Farben finden die Formen, die Formen finden untereinander und zu den Farben, Farben und Formen geben sich auf, um sich in neuen, ungewohnten Mischungen wiederzufinden. Er gelangt zu faszinierend-einfachen und meditativ-klaren Gestaltungen, die in ihrer einmaligen Farb- und Formklanglichkeit die Frühpunkte des Geborenwerdens und die Weiten der Weisheit integrieren. Radikaler Ernst mit der den Farben und Formen innewohnenden Funktionalität; buntgemachte schwarz-weiss-Konturik ist in Streubels OEuvre nicht zu finden. Und aus diesem Ernst einerseits und den auf Ideologisierung orientierten kulturpolitischen Verhältnissen in der DDR andererseits, hat sich die Dramatik seines persönlichen Lebens entwickelt. Von Anhängern und Freunden - die sich an seinem lodernden Geist oft verbrannten, seiner Originalität oft nicht gewachsen waren, aber doch zumindest seine Genialität ahnten - immer wieder allein gelassen, baute er trotz aller gegenteiliger Erfahrungen auf eine Erneuerung der Kunst. Vielleicht kann seine Kunst als eine Art Saatgut dafür gelten. Diejenigen Kräfte, die die Kraft seiner Kunst und ihrer Ansprüche fürchteten, sie nicht wahrhaben wollten oder ihr nicht gewachsen waren, versuchten ihn massiv in Bedrängnis zu bringen, das So-Sein seiner Kunst und seiner Person zu bagatellisieren, zu verschweigen oder kaputtzuspielen. Erst als ich selbst die scheinbar zufälligen, aber gewollt- gesteuerten und raffiniert-perfekten Zerteilungsmethoden der ehemaligen DDR-Staatskultursicherheitsmaschinerie und den ungeheuerlichen psychischen Druck, der von ihr ausgeübt wurde, an Leib und Seele zu spüren bekam, begriff ich bewundernd, was Streubel und seine Frau seit vier Jahrzehnten auszuhalten hatten, begriff ich seine Furcht und Sorge um die Erhaltung seines Lebenswerkes, und sogar seine fast krankhaften Misstrauischkeiten, mit denen er auch jene, die ihm und seinem Werk Freunde und Helfer sein wollten, von sich stiess. Die ihn unmittelbar betreffenden, von der DDR-Staatskultursicherheitspolitik erzeugten Spannungen waren so mächtig, dass sie wahrscheinlich nicht anders als mit Selbstisolierung auszuhalten waren. Orwell hat in seinem Roman "1984" solche Spannungen und die aus ihnen hervorgehenden éngste beschrieben; sie sind grausam. Welchen Kräfteverschleiss zieht es nach sich, diesen Spannungen vier Jahrzehnte unentwegt ausgesetzt zu sein ! 'Wertfreie ésthetik' als Alternative zu allen Spielarten 'kommerzieller Kunst' setzend, hat Streubel - unter Verzicht auf Bekanntheit und ôffentlichkeit (und die sich daraus er- gebenden Vorteile), unter Verzicht auf Darstellung, Belehrung und alle ideologistischen Anwandlungen - allein aus der Kraft seiner sich im ésthetischen (das ésthetische als die Mitte von Künstlerischem und Wissenschaftlichem!) vollziehenden Integrationen die Funktionen des Künstlerischen auf bisher ungesehene Weise erfüllt und konkretisiert. Dass von diesen Integrationsleistungen bisher kein Gebrauch gemacht wurde, hat wohl auch damit zu tun, dass die befreiend 'befreite Mitteilung' die aus dem Streubel'schen Werk spricht, sich schwerlich zum "teile und herrsche" und zu ideologischen Umfunktionalisierungen missbrauchen läßt. Als ich im Januar 1988, zu einer Zeit, in der die DDR-Staatssicherheit in Folge der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration zahlreiche Hausdurchsuchungen und Verhaftungen vornahm und Ermittlungsverfahren wegen "landesverräterischer Beziehungen" einleitete, gemeinsam mit meiner Frau die Beuys-Ausstellung im Ostberliner Marstall besuchte und dort in grossen Lettern vergleichbare Denkansätze und öberlegungen fand, für die Streubel Jahrzehnte zum Schweigen verurteilt war, für die ich selbst mit der Einbusse aller Möglichkeiten öffentlicher künstlerischer Aktivität hatte zahlen müssen, da waren wir begeistert und niedergeschlagen zugleich. Begeistert, weil gedankliche Parallelen in die Ohren sprangen, niedergeschlagen, weil wir uns der Aussichtslosigkeit unserer eigenen Situation wiederum zutiefst bewusst wurden. Denn auch die Beuys- Ausstellung hatte der DDR-Kulturpolitik dazu zu dienen, eine Liberalität zur Schau zu tragen, hinter deren Fassade sich vergleichbare Ansätze innerhalb der DDR umso besser verschweigen und in die Ecke drängen liessen, hinter deren Fassade die Existenz eines Streubel'schen Werkes umso unwahrscheinlicher erscheinen musste, ihm die Grundlagen des Begreifbar-Werden-Könnens umso ungestörter vorenthalten werden konnten. Für die zeitliche Parallelität der Beuys-Ausstellung mit den Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Anschuldigen "landesverräterischer Beziehungen", bzw. "geheimdienstlicher Tätigkeit" (jeder Unliebsame, bei dem auch nur eine Visitenkarte aus dem westlichen Ausland gefunden wurde, musste solcher Anschuldigungen gewärtig sein) wird kaum einer ein Ohr gehabt haben; uns fuhr sie in die Glieder. Die DDR-Presse führte dazu eine deutliche Sprache (die auf's Haar jener von April/Mai 1953 glichen. Ergänzend dazu die - einen finsteren Mantel zurückhaltenden Schweigens ausbreitende - Grosszügigkeit, mit der westdeutsche und westeuropäische Künstler kulturminsteriell in die DDR ein- geladen und umgarnt wurden.

Streubel konnte es sich in seiner Isoliertheit zwar nicht leisten, sich politisch direkt anzulegen, und das sah er auch nicht als seine unmittelbare Aufgabe. Aber schon allein die von ihm zu bestimmten Daten schriftlich formulierten und in blauer Matrizeschrift verschickten Gedanken-, Begriffs- und Daten-Verknüpfungen, bzw. seine alljährlichen "p.f."s bewiesen seine erstaunliche Aktivität und seinen Mut. Ich habe ihn in Situationen angetroffen, wo über ihm alles zusammenzubrechen schien und ihm aus Händen und Füssen der Eiter ausbrach, sodass er Monate lang kaum etwas tun konnte. Dass er sich über all die Jahre trotz all der Belastungen halten konnte, ist seiner phantastischen Konstitution und dem löwenhaften Stehvermögen seiner Frau zu danken.

Joseph Beuys, der genau zwei Tage vor Kurt W.Streubel geboren wurde, sagte: "...Biographie ist mehr als nur eine rein persönliche Angelegenheit. ...". Meine eigenen Bemühungen, der Aussage dieses Satzes gerecht zu werden und zu einer ôffnung gegenüber Streubels Werk sowie zu entsprechenen Ausstellungen beizutragen, sind auch seit unserer öbersiedlung 1988 in die Bundesrepublik erfolglos geblieben. Selbst bei hochrangigen Bundesbürgern, die an der Eröffnung der Ostberliner Beuys-Ausstellung beteiligt waren und damit entsprechende Verantwortung übernommen hatten, wurde meine Bitte um dahingehende Unterstützung abgewiesen. Die politische deutsch-deutsche Geschäftemacherei wäre wohl andernfalls in Gefahr gelaufen, gestört zu werden.

Es ist auch angesichts dessen an der Zeit, sich mit Kurt W. Streubels Werk bewusst zu werden, dass Kunst ebenso wenig wie Biographie eine rein persönliche Angelegenheit ist.

 

jw - 30 - 11 - 1988 / 20 - 12 - 1990


Begrenzung


H. Johannes Wallmann über ein Bild von Kurt W. Streubel (1988/90) veröffentlicht im Katalolg zur Einzelausstellung von K.W.Streubel, |Lindenau-Museum Altenburg und Comptoir-Kunstmagazin 2002

H. Johannes Wallmann
Begrenzung - ein Bild von Kurt W. Streubel

Anhand dieses Bildes aus „Öl, Kreide, Farbe“ (wie Streubel im Gegensatz zu Beuys´ „Filz, Leim, Fett“ seine Materialien bezeichnete) möchte ich versuchen, die Gestaltung von Gleichgewichten zu beleuchten.

Paul Klee nannte grau die Farbe des Geborenwerdens. Grau entsteht, wenn alle Farben zu gleichen Anteilen gemischt werden. In Streubels Schaffen der siebziger Jahre, das Graufarbtöne auf hochsensible Weise zu Formen werden lässt, strahlen diese Graufarbtöne eine unglaubliche kosmische Ruhe und Gelassenheit aus. Wobei sie - ähnlich zenbuddhistischer Philosophie – bei aller Zurückhaltung zugleich eine wunderbare Poesie entfalten, bzw. diese Entfaltung dem Betrachter zur Aufgabe machen.

So auch „Begrenzung“. Die grautönigen Farbmischungen und die einfache Form dieses Bildes lassen erst auf den zweiten Blick erkennen, dass sie hochkomplex sind. Vier der fünf Farbmischungen (wenn nicht sogar alle fünf) dürften unterschiedliche Mischungsverhältnissse gleicher Farben sein. In alle Farben spielt das Hell der Hintergrundfarbe, der eigentlichen Grundfarbe des Bildes, hinein. Durch die Farben ist die Form des Bildes unterteilt. Und diese Form schwebt und steht zugleich. Sie schwebt über dem Horizont und ist doch ganz klar Vordergrund, der auf dem Boden zu stehen scheint. Zugleich erscheint diese Form sowohl flächig als auch perspektivisch-skulptural. Aus der Einheit von Farbtonflächen und räumlich-skulpturaler Perspektive holt sie durch sich hindurch den Hintergrund in den Vordergrund, so dass der Hintergrund - ganz leichthellgraue Fläche und unendlicher Raum - zum zentralen Ereignis des Vordergrundes wird und diesen wesentlich bestimmt.

Die Form selbst ist weder rund noch eckig (eine „Quadratur des Kreises”?) und setzt sich aus drei ähnlichen (annähernd kelchblätterartigen) Formenteilen zusammen, wobei die beiden vertikal aufgerichteten Formenteile aus der horizontal liegenden ockergrautönigen Basisform hervorgehen. Die linke Seite - ganz Aussenfläche - ist hellgrüngrau und verdeckt schützend das Innere des Bildes. Die rechte Seite dagegen ist eine dunkelviolettgrau getönte räumliche Form, die ihre Innenseite dem Blick freigibt und ihn förmlich in ihr Innen hineinzieht, das vom leichthellgrau leuchtenden Hintergrund durchdrungen ist. Indem wir unseren Blick von diesem leichten Magnetismus ziehen lassen, landet er am oberen Ende der Form. Dort berühren sich zart die Spitzen der auslaufenden Flächen ihrer linken und rechten Formenteile. Während sie in ihrer Berührung oben aber ganz Fläche sind, bilden ihre beiden unteren Bereiche die erwähnte räumlich-skulpturale Perspektive und damit auch ein Aussen und Innen. So erzeugt die Berührung der beiden Formenteile einen Zwitterzustand; Innen und Aussen, Fläche und Raum existieren zwar friedlich miteinander, widersprechen sich aber gleichzeitig, denn der Raum scheint ganz zur Fläche zu werden, die Fläche ganz zum Raum.

Der zentrale Zwischenraum zwischen den drei Formenteilen trägt flammenähnlich den Hintergrund in den Vordergrund und bringt die drei Formenteile zueinander in Einheit und Spannung. Während die Basisform sozusagen die Strukturgrundlage der Einheit bildet, bilden die beiden vertikalen Seiten die Strukturgrundlage der Gegensätze. Die beiden Seiten stehen zwar zueinander in Spannung, bilden aber mit der Basisform eine vollkommen synergetische Einheit und Spannung von Gegensätzen. Die drei Formenteile umgrenzen den universellen Hintergrund zu jener anmutig flammenähnlichen Form, die den Zwischenraum zum lebendigen Zentrum des Bildes werden lässt. Diese flammenähnliche Form ist Leere und Fülle zugleich und offenbart eine ausgewogen schwingende Spannung. Sie hält die drei Teile der umgrenzenden Form in einem Gleichgewicht von Abstand und Zusammenhang. Es scheint, als würde der Vordergrund ohne sie in sich zusammensacken müssen. Eins mit dem Hintergrund wirkt sie mit ihrem höchsten Punkt auf die sich berührenden Spitzen der oberen Enden der beiden vertikalen Formenteile. Man spürt förmlich den leichten Druck, den diese flammenähnliche Form auf die beiden sich berührenden Spitzen ausübt und der diese irgendwann sanft voneinander lösen wird. Leicht lässt sich folgern, dass die beiden vertikalen Formenteile bei der Trennung ihrer sich verbindenden Spitzen in die Basisform zurücksinken würden. Die zentrale flammenähnliche Form würde dann wieder ganz Hintergrund sein.

Doch auch das Feld des universellen Hintergrundes erfährt im Zusammenwirken mit der Vordergrundform eine Metamorphose. Durch diese wird es seiner Gleichförmigkeit enthoben und als Energiestrahlung in den Vordergrund vergegenwärtigt. Einerseits bildet die Vordergrundform dabei eine Art Klammer zwischen unten und oben, anderseits scheint sie erst durch die Kräfte von Vorder- und Hintergrund aufgespannt zu sein. Damit deutet sich an, dass Vordergrund und Hintergrund wie auch Oben und Unten aufeinander angewiesen sind und erst durch ihr gegenseitiges Wechselspiel Gestalt annehmen können.

Warum nun der Titel „Begrenzung”? Ist die Form eine Begrenzung des Unbegrenzten, weil das Unbegrenzte in ihm eine begrenzte Gestalt annimmt? Oder ist die Vordergrundform vom Unbegrenzten begrenzt, weil dessen Universalfeld zugleich als Leere und als Fülle in ihr wirkt und dieses früher oder später (Zeit resultiert aus dynamischen Prozessen des Entstehens und Vergehens) zur Auflösung jeder konkreten Form führen muss? Sowohl als auch. Das universale Hintergrundfeld wirkt in den Vordergrund (wie in uns selbst) hinein, bildet mit ihm eine Einheit und Spannung und verleiht der Form ihre Energie. Es entsteht damit eine Anmut, in der sich die unterschiedlichen Relationen miteinander verbinden. So ist zu erkennen, dass philosophisch klar durchdachte Relationen von Wahrheit und hochsensible Relationen von Schönheit in diesem Bild zu einer Einheit verschmelzen. Nicht zu unterscheiden, was an diesem Bild schön oder wahr ist: es ist in höchstem Maße wahr und schön zugleich. Vielleicht sogar kann das Zentrum dieses Bildes – die flammenartige Vergegenwärtigung des universellen Hintergrundes – als eine Darstellung dessen gelten, was im Sinne von James Joyce als Seele  bezeichnet werden könnte. Wenn James Joyce sagte, dass „Laut und Form und Farbe, die Gefängnistore der Seele“ sind, dann kann dieses Bild ganz sicher als ein Tor gelten, das weit ins Freie führt und doch die Grundlagen und Bindungen von Freiheit deutlich werden lässt.

Wie hier tariert „Begrenzung“ die Gleichgewichte seiner unterschiedlichen Formen, Farben, Dimensionen und möglichen Reflexionen offenbar in jeder Hinsicht so aus, dass sie sich auch dann ergänzen, wenn sie sich zu widersprechen und auszuschliessen scheinen. Und in dieser Gestaltung von Gleichgewichten dürfte so etwas wie ein Schlüssel zu einem neuen integralen Begreifen der Welt gegeben sein. Einem Begreifen, das die sinnliche Erfahrung gleichermaßen wie die intellektuelle Reflexion impliziert, beide als die zwei unterschiedlichen Aspekte eines Ganzen erfahrbar werden lässt. 

Es war (nach meiner Erfahrung) jedoch prinzipiell nicht Streubels Art, das, was seine bildnerischen Arbeiten in Farben und Formen vollziehen, konkret zu erläutern. Poetische Andeutungen und (manchmal langwierig abschweifende) Vergleiche waren das Maximale, was von ihm diesbezüglich zu erfahren war. Und so haben wir über dieses Bild (dessen Titel „Begrenzung” er uns erst später in einer Nebenbemerkung mitteilte) nie wirklich gesprochen. Aber als meine Frau und ich dieses Bild 1987 in Empfang nahmen, machte er die Bemerkung, dies sei das „Brandenburger Tor“ und deshalb gehöre es nach Berlin. Ich lachte, begriff aber die mehrfache Doppelbödigkeit dieser Bemerkung noch nicht. Abgesehen davon, dass es vielleicht nicht unwitzig wäre, „Begrenzung” auf seine politischen Implikationen zu reflektieren, ist auch mit diesem Bild eine phänomenale Abstraktionshöhe erreicht. Konkretisierende Reflexionen, die ganz in Resonanz zu dem stehen, was in einem Kunstwerk abstrakt Gestalt annahm, können kaum unrichtig sein. Zur Erschliessung von Streubels Werk braucht es deshalb vielmehr des Trainings ideologiefreier Wahrnehmung (Streubel nannte es „wertfreie Ästhetik“) als der Erklärungen des Autors selbst zum „Gedacht- und Gemachtsein“ seines Werkes. Die Abstraktionshöhe (die sich in Streubels Werk eben oftmals mit einer poetischen Tiefe verbindet) erfordert und erlaubt zudem unterschiedliche Konkretisierungen, die sich letztlich – so sie gedanklich richtig ausgeführt sind - als Einzelaspekte eines übergeordneten Zusammenhanges herausstellen. Und dies ist das, was mich an Streubels Arbeiten so ausserordentlich fasziniert. Das Wunderbare - besonders an seinen Arbeiten der siebziger Jahre - ist aber nicht nur ihre philosophisch weitgehende Klarheit und Abstraktionshöhe, ihre graufarbtönig gelassene zenähnliche Ausstrahlung und Harmonie, sondern dass sie ihre Rätselhaftigkeit, ihre Poesie und Vieldeutigkeit auch dann, wenn man sie für sich zu entschlüsseln vermochte, nicht verlieren.

jw 2000 (neu durchgesehen 25.7.02)